Samstag, September 30, 2006

"Lehrermangel dramatisch"

Philologenverband: "Lehrermangel dramatisch"
Bildung, Schule, lernen: Wie soll das funktionieren ohne genügend Lehrer?
24. September 2006

Vor den Folgen einer "weiteren drastischen Verschärfung" des Lehrermangels warnt der Deutsche Philologenverband. Nach seiner Berechnung ist die Zahl der fehlenden Lehrer von 10.000 im Vorjahr auf 14.000 bis 16.000 gestiegen; in diesem Schuljahr werden in jeder Woche etwa eine Million Unterrichtsstunden ersatzlos ausfallen. Zwar sei die Lage in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich, teilt der Verband mit. Gleichwohl kommt er zu dem Schluß, daß sich Deutschlands Schulen insgesamt in "der größten Lehrerversorgungskrise" seit mehr als dreißig Jahren befänden.

Zuletzt hatte am Donnerstag Bundespräsident Horst Köhler deutlich höhere Ausgaben für das deutsche Bildungssystem gefordert. Nur jeder zehnte Euro, den die öffentliche Hand ausgebe, fließe ins Bildungssystem. Damit liege Deutschland unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. Zum Zustand des Bildungswesens sagte der Bundespräsident: "Der Befund ist beschämend."

Bildungsqualität nachhaltig gefährdet

Eine "nachhaltige Gefährdung der Bildungsqualität" beanstandet nun auch der Philologenverband, der für den Lehrermangel zwei Gründe nennt. Zum einen rolle die Pensionierungswelle, zum anderen gebe es wegen der Unattraktivität des Berufes zuwenig Lehramtsabsolventen, sagte Verbandsvorsitzender Heinz-Peter Meidinger dieser Zeitung. Nach seiner Ansicht wird sich daran auch in den nächsten fünf bis zehn Jahren nichts ändern: "Der Lehrermangel wird dramatisch." Als ausgefallenen Unterricht wertet der Verband nach Meidingers Worten jene Stunden, die nicht gegeben werden können, weil es keinen Lehrer dafür gibt und auch keine Vertretung, weil der Lehrer krank oder etwa in Fortbildung ist.

"Geradezu dramatisch bis katastrophal" bezeichnet der Verband die Lage in den Fächern Mathematik, Physik, aber auch Latein und Religion. In diesen Fächern werde mittlerweile in einer Reihe von Bundesländern der im Stundenplan vorgeschriebene Unterricht nicht vollständig oder durch nicht entsprechend ausgebildete Lehrkräfte erteilt. In Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, aber teilweise auch in Hessen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen hat sich der Lehrermangel laut Verband an den weiterführenden Schulen auf fast alle Fächer ausgeweitet. "Besonders dramatisch" sei es an den beruflichen Schulen und an Hauptschulen. Inzwischen suchten aber auch viele Gymnasien, Real- und Grundschulen händeringend neue Lehrer.

Immer mehr Quereinsteiger


Daß Lehrer fehlen, gilt nach Einschätzung des Philologenverbandes für alle westdeutschen Bundesländer. Als ein Beispiel nennt er Nordrhein-Westfalen, wo dies auch eine Einstellungsoffensive mangels geeigneter Bewerber, aber auch wegen der geringen Attraktivität mancher Landesteile nicht habe verhindern können. Daß sich die ostdeutschen Länder dem annähern, beweise Sachsen, wo mindestens 1700 Lehrerstellen mehr nötig wären.

Als eine der signifikantesten Folgen des Lehrermangels beklagt der Verband zudem "die massiv ansteigende Quote an Quereinsteigern" in den Lehrerberuf. Mehr als ein Viertel der Vertretungslehrer hätten keinen Universitätsabschluß mehr. In Bayern gehörten Förster, Diplomübersetzer, Ingenieure und Beamte von aufgelösten Wasserwirtschaftsämtern an fast allen weiterführenden Schulen zum Alltag.

Text: cw. / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.09.2006, Nr. 38 / Seite 1

Samstag, September 09, 2006

Neue Lehrer braucht das Land

Neue Lehrer braucht das Land

Rund 40 Prozent der deutschen Pädagogen gehen in den nächsten zehn Jahren in Pension. Um die Lücken zu füllen, werben einige Kultusministerien bereits mit Flugblättern

von Friedemann Sittig

Der erste Schultag nach den Sommerferien verlief für Izla und Yvonne diese Woche erfreulich entspannt. Anstatt sich mit Mathematikaufgaben zu quälen, bummelten die beiden Berliner Gymnasiastinnen durch das Einkaufszentrum am S-Bahnhof Gesundbrunnen. "Es gab Probleme bei der Lehrerverteilung", berichteten die Mädchen der Lokalzeitung "BZ". "Deshalb durften wir um 10 Uhr wieder gehen."

Vielen der 313 000 Berliner Schüler erging es ähnlich. An manchen Schulen wurden wegen Lehrermangels sogar nur neue Stundenpläne ausgegeben und gar nicht unterrichtet. Mindestens 200 Lehrer müssten sofort eingestellt werden, um die Schulen zu hundert Prozent auszustatten, monierte die Vereinigung der Berliner Schulleiter. Und die Bildungsexpertin der Berliner FDP, Mieke Senftleben, sprach gar vom Scheitern der rot-roten Bildungspolitik "am ersten Tag"

Eine Art politische Reflexzonenmassage. Schließlich dient das Wort Lehrermangel regelmäßig den Oppositionsparteien jeder Couleur dazu, das Versagen der jeweiligen Landesregierung zu beschwören. Der Lehrermangel ist nicht nur in Berlin, sondern bundesweit ein strukturelles Problem. Allein in den nächsten zehn Jahren werden 40 Prozent der Pädagogen in den Ruhestand gehen, rund 320 000 Planstellen werden dadurch frei. Längst nicht alle werden besetzt, fürchten Bildungsexperten.

"Damit wenigstens der Hauch einer Bestenauslese gewahrt bleibt und nicht jeder noch so schlechte Bewerber eingestellt werden muss, brauchen wir in den nächsten Jahren 320 000 bis 350 000 Studenten und Lehramtsbewerber", sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus. Mit einem solchen Andrang sei jedoch auch bei optimistischen Schätzungen nicht zu rechnen.

Ein Problem, das zu vermeiden gewesen wäre. "Die Politik muss sich Versäumnisse vorhalten lassen", sagt Kraus. Schließlich hänge der Lehrerbedarf nicht von der Konjunktur ab und sei ohne Schwierigkeiten für jeweils zehn Jahre im Voraus zu berechnen. Die Bezugsgrößen seien bekannt: die Zahl der Schüler, die Altersstruktur der Lehrer und die politischen Vorgaben bezüglich Klassenstärken und Stundenzahlen.

Damit sich mehr Abiturienten als bisher für ein Lehramtsstudium entscheiden, müsse der Beruf wieder attraktiver gemacht werden, schlägt Kraus vor. Das fange mit den Gehältern der Referendare an, die zurzeit lediglich bei rund 900 Euro im Monat liegen und deutlich angehoben werden müssten.

"Wir können uns jedoch nicht darauf beschränken, auf eine neue Lehrergeneration zu warten", befürchtet Kraus. Gerade in den nächsten vier Jahren würden nämlich besonders viele Lehrer pensioniert. Deshalb müsse man über unkonventionelle Maßnahmen nachdenken. Zum Beispiel könnten manche Pensionäre auf Stundenbasis weiter beschäftigt werden und mehr Seiteneinsteiger eingestellt werden, vor allem Naturwissenschaftler.

Die Kultusministerien beginnen bereits mit gezielten Werbeaktionen. "Gute Lehrer braucht das Land" ist der Titel eines Flugblatts des niedersächsischen Kultusministeriums, mit dem Lehramtsstudenten geworben werden sollen. "Wir verteilen den Flyer in den Abschlussklassen der Oberschulen", sagt der Sprecher des Ministeriums, Georg Weßling.

Quelle: Artikel erschienen am 27. August 2006 in „Welt am Sonntag“.